Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 20.05.20 (IV ZR 193/19) lehrbuchmäßig dargestellt, wann ein Pflichtteilsberechtigter ausnahmsweise einen Anspruch auf Ergänzung bzw. Berichtigung eines notariellen Nachlassverzeichnisses haben kann, und im konkreten Fall entschieden:
Leitsatz BGH vom 20.05.20 – IV ZR 193/19:
„Der Pflichtteilsberechtigte kann die Ergänzung bzw. Berichtigung eines notariellen Nachlassverzeichnisses auch dann verlangen, wenn dieses wegen unterbliebener Mitwirkung des Erben teilweise unvollständig ist (hier: verweigerte Zustimmung des Erben zu einem Kontendatenabruf des Notars bei einem ausländischen Kreditinstitut).“
Worum ging es?
Die Pflichtteilsberechtigten hatten die Erbin im Wege der Stufenklage u.a. auf Auskunftserteilung durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses gem. § 2314 Abs. 1 S. 3 BGB in Anspruch genommen und aus einem entsprechenden Teil-Anerkenntnis- und Teil-Urteil die Zwangsvollstreckung gem. § 888 ZPO gegen die Erbin betrieben.
Die Erbin legte in der Folgezeit ein notarielles Verzeichnis vor, das aber keine Angaben zu Konten in Österreich enthielt, weil die Erbin, wie der Notar vermerkte, ihre Zustimmung zu einem Datenabruf österreichischer Konten durch den Notar verweigert hatte. Stattdessen ließ sie dem Nachlassverzeichnis ein Protokoll der Erbantrittserklärung und Durchführung der Verlassenschaftsabhandlung eines österreichischen Notars beifügen.
Da sie der Auffassung war, den titulierten Auskunftsanspruch erfüllt zu haben, erhob sie Vollstreckungsgegenklage mit dem Ziel, die Zwangsvollstreckung der Pflichtteilsberechtigten für unzulässig zu erklären.
Der BGH hielt die Vollstreckungsgegenklage für unbegründet.
Die wesentlichen Entscheidungsgründe des BGH, IV ZR 193/19:
Einleitend stellt der BGH noch einmal klar, dass der Notar den Bestand des Nachlasses selbst und eigenständig ermitteln müsse. Dabei habe er diejenigen Nachforschungen anzustellen, die ein objektiver Dritter in der Lage des Gläubigers für erforderlich halten würde (Bestätigung des Beschlusses des I. Senats vom 13.09.18, I ZB 109/17; s. hierzu meine Rezension).
Spiegelbildlich dazu sei der Erbe verpflichtet, an der ordnungsgemäßen Aufnahme des notariellen Nachlassverzeichnisses mitzuwirken. Dabei gehe die vom Erben geschuldete Kooperation auch dahin, eigene Auskunftsansprüche gegenüber Geldinstituten bzw. sonstigen Dritten durchzusetzen oder Dritte anzuweisen, die benötigten Auskünfte unmittelbar gegenüber dem Notar zu erteilen (OLG Bamberg, ZEV 2016, 580 Rn. 5).
Sodann hebt der BGH erneut hervor, dass der Pflichtteilsberechtigte grundsätzlich keine Berichtigung oder Ergänzung eines notariellen Nachlassverzeichnisses verlangen könne. Vielmehr sei er unter den Voraussetzungen des § 260 Abs. 2 BGB auf die eidesstattliche Versicherung des Erben verwiesen.
Allerdings seien von diesem Grundsatz verschiedene Ausnahmen anerkannt: So könne ein Anspruch auf Ergänzung bzw. Berichtigung bestehen, wenn
- in dem Nachlassverzeichnis eine unbestimmte Mehrheit von Nachlassgegenständen – etwa aufgrund eines Rechtsirrtums des Pflichtigen – nicht aufgeführt ist (OLG Düsseldorf, ErbR 2019, 772, 773),
- Angaben über den fiktiven Nachlass oder Schenkungen fehlen (OLG Oldenburg, NJW-RR 1992, 777),
- die Auskunft zwar dem Wissensstand des Verpflichteten entspricht, dieser sich jedoch fremdes Wissen trotz Zumutbarkeit nicht verschafft hat (OLG Saarbrücken, ZEV 2011, 373, Rn. 17), oder
- sich ein Notar auf die Wiedergabe der Bekundungen des Erben ohne eigene Ermittlungstätigkeit beschränkt (OLG Koblenz, ZEV 2018, 413, Rn. 18).
Die Erbin wäre aufgrund der sie gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB treffenden Verpflichtung gehalten gewesen, sich über ihr eigenes Wissen hinaus die zur Auskunftserteilung notwendigen Kenntnisse so weit wie möglich zu verschaffen und von Auskunftsrechten gegenüber Kreditinstituten Gebrauch zu machen (vgl. zu dieser Erkundigungspflicht BGH, Urt. v. 28.02.1989, XI ZR 91/88, BGHZ 107, 104, 108). Da sie dies durch die Verweigerung des Kontendatenabrufs nicht getan habe, läge folglich eine teilweise Unvollständigkeit des notariellen Nachlassverzeichnisses vor.
(Im Folgenden führt der BGH noch aus, dass und warum die vom Erben abzugebende und vor einem österreichischen Notar protokollierte Erbantritts- und Vermögenserklärung hinsichtlich des in Österreich befindlichen Vermögens in ihrer Funktion nicht einem notariellen Nachlassverzeichnis gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB entspricht – und daher die Bezugnahme die teilweise Unvollständigkeit des vorgelegten notariellen Nachlassverzeichnisses nicht beseitigt.)
Anmerkung von Fachanwalt für Erbrecht Ingo Lahn, Hilden:
Sehr begrüßenswert an der Entscheidung ist zunächst, dass der BGH die verschiedenen Ausnahmen, die in der Literatur und Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung herausgebildet wurden, um dem Pflichtteilsberechtigten einen Ergänzungs- oder Nachbesserungsanspruch zu gewähren, nun höchstrichterlich gebilligt hat. Sogleich hat der BGH gleichsam auf eine weitere Ausnahme erkannt, nämlich die „teilweise Unvollständigkeit aufgrund mangelnder Mitwirkung des Erben“. Bislang konnte Nachbesserung nämlich nur verlangt werden, wenn die Unvollständigkeit nicht auf unzureichender Sorgfalt beruhte.
Schließlich unterstreicht der BGB die Verantwortung des Erben für die Erstellung eines ordnungsgemäßen, also vollständigen und korrekten Nachlassverzeichnisses. Der Erbe hat eine aktive Mitwirkungspflicht – insbesondere bei der Informationsbeschaffung! Er darf nicht einfach abwarten, welche Nachlassgegenstände der Notar denn so ermittelt.
Jedem anwaltlichen Berater eines auf den Pflichtteil in Anspruch genommenen Erben muss die aktive Mitwirkungspflicht seines Mandanten bewusst sein. Unterlässt der Anwalt zumindest einen entsprechenden Hinweis, kann er sich u.U. schadensersatzpflichtig machen.
Ob das besprochene Urteil des BGH nun ein erster Schritt weg von der Verweisung des Pflichtteilsberechtigten auf die eidesstattliche Versicherung durch den Erben ist, wird sich zeigen. Dies wäre allerdings zu hoffen, denn durch die eidesstattliche Versicherung erhält der Pflichtteilsberechtigte nicht zwingend die fehlende Auskunft, die er benötigt, um seinen Anspruch beziffern zu können.
Daher sollte ein Ergänzungs- oder Berichtigungsanspruch jedenfalls auch dann zuerkannt werden, wenn das Nachlassverzeichnis nachweisbar (oder unstreitig) unrichtig oder unvollständig ist, wollte man nicht ohnehin annehmen, dass ein derartiges Verzeichnis schon keine Erfüllung bewirkt (a.A. OLG Schleswig, ZEV 2016, 583, Rn. 12 a.E., und OLG Schleswig, BeckRS 2016, 16209, nach dessen Auffassung es für die Erfüllung des Auskunftsanspruchs unerheblich ist, ob das Verzeichnis inhaltlich vollständig oder richtig ist).