BGH: Ein bei einer Schenkung vorbehaltenes Wohnungsrecht hindert den Anlauf der Zehn-Jahres-Frist regelmäßig nicht!
In einer weiteren grundsätzlichen Entscheidung hat der Bundesgerichtshof am 29.06.16 (IV ZR 474/15) zu der umstrittenen Frage ausgeführt, wie sich ein bei einer Schenkung vereinbartes Wohnungsrecht auf den Anlauf der Abschmelzungsfrist des § 2325 Abs. 3 BGB auswirkt.
Wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung wurde die Entscheidung in die Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen aufgenommen (BGHZ 211, 38).
Rechtlicher Hintergrund:
Nach § 2325 Abs. 1 BGB kann ein Pflichtteilsberechtigter, wenn der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht hat, als Ergänzung des Pflichtteils den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnet wird. Damit soll verhindert werden, dass der Erblasser noch lebzeitig den Nachlass aushöhlt, um den Pflichtteil zu minimieren.
Nach dem hier einschlägigen § 2325 Abs. 3 Satz 1 BGB wird der Wert einer Schenkung innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall in vollem Umfang, innerhalb jedes weiteren Jahres vor dem Erbfall um jeweils ein Zehntel weniger berücksichtigt. Sind zehn Jahre seit der Leistung des geschenkten Gegenstands verstrichen, dann bleibt die Schenkung gänzlich unberücksichtigt (sog. Abschmelzungsmodell).
Allerdings hat der BGH schon in seiner Grundsatzentscheidung vom 27.04.1994 (IV ZR 132/93, BGHZ 125, 395 = NJW 1994, 1791) entschieden, dass eine „Leistung“ im Sinne von § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB erst dann vorliegt,
„wenn der Erblasser nicht nur seine Rechtsstellung als Eigentümer endgültig aufgibt, sondern auch darauf verzichtet, den verschenkten Gegenstand – sei es aufgrund vorbehaltener dinglicher Rechte oder durch Vereinbarung schuldrechtlicher Ansprüche – im Wesentlichen weiterhin zu nutzen.“
Hatte der Erblasser eine Immobilie unter Nießbrauchsvorbehalt schenkweise übertragen, lag eine „Leistung“ i.d.S. nicht vor mit der Folge, dass die Zehn-Jahres-Frist noch nicht zu laufen begonnen hatte.
Ob und unter welchen Voraussetzungen dies auch gilt, wenn der Erblasser sich „nur“ ein Wohnungsrecht vorbehalten hat, war umstritten und noch nicht höchstrichterlich geklärt.
Die Leitsatz-Entscheidung des BGH:
„Behält sich der Erblasser bei der Schenkung eines Grundstücks ein Wohnungsrecht an diesem oder Teilen daran vor, so kann hierdurch in Ausnahmefällen (hier verneint) der Beginn des Fristlaufs gem. § 2325 Abs. 3 BGB gehindert sein (Fortführung des Senatsurteils vom 27. April 1994 – IV ZR 132/93, BGHZ 125, 395).“
Sachverhalt und Gründe:
Der Kläger machte Pflichtteilsergänzungsansprüche gegen seine Mutter, die testamentarische Alleinerbin seines Vaters, geltend im Hinblick auf eine schenkweise Grundstücksübertragung der Eltern auf den Bruder des Klägers im Jahre 1994.
In dem Übertragungsvertrag hatten sich die Eltern als Gesamtberechtigte ein Wohnungsrecht an den Räumlichkeiten im Erdgeschoss des Dreifamilienhauses vorbehalten, das auch die Mitbenutzung des Gartens, der Nebenräume sowie aller Leitungen und Anlagen umfasste. Ferner durften die Eltern eine Garage unentgeltlich nutzen und verpflichtete sich der übernehmende Bruder, das Grundstück zu Lebzeiten der Eltern weder zu veräußern noch darauf Um- oder Ausbaumaßnahmen ohne ihre Zustimmung vorzunehmen.
Der Kläger meinte, eine Leistung habe damit nicht vorgelegen. Das sahen alle Instanzen anders.
Der BGH stellt zunächst fest, dass an seiner „Genuss-Rechtsprechung“ aus dem Jahre 1994 auch nach der Änderung des § 2325 Abs. 3 BGB mit Wirkung ab dem 01.01.10 weiterhin festzuhalten sei.
Sodann beleuchtet der BGH den Meinungsstand bei vorbehaltenen Wohnungsrechten:
Meinungsstand:
- Nach überwiegender Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung liegt eine „Leistung“ i.S.d. § 2325 Abs. 3 BGB und damit ein Fristbeginn mit der Eigentumsumschreibung im Grundbuch vor, wenn sich der Erblasser ein Wohnungsrecht lediglich an einem Teil des Hausgrundstücks vorbehält.
- Nach einschränkender Auffassung soll das aber nur dann gelten, wenn sich der Erblasser nicht auch noch ein Rückforderungsrecht hat einräumen lassen.
- Eine „Leistung“ und damit einen Fristbeginn abgelehnt haben z.B. das OLG München, wenn sich das Wohnungsrecht auf die gesamte Immobilie bezieht, und das OLG Düsseldorf, wenn dem Erblasser weiterhin ein wesentlicher Einfluss auf die Verwendung der Immobilie eingeräumt wurde.
Der BGH zeigt sodann die Unterschiede zwischen Nießbrauch und Wohnungsrecht auf und meint, dass auch der abstrakte Unterschied zwischen Nießbrauchs- und Wohnungsrecht es nicht ausschließe, dass „in Ausnahmefällen“ auch bei der Einräumung eines Wohnungsrechts der Beginn des Fristablaufs gem. § 2325 Abs. 3 BGB gehindert sein könne.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der BGH bei einem vorbehaltenen Wohnungsrecht regelmäßig von der Abschmelzung ausgeht!
Schließlich stellt der BGH fest, dass die Frage, ob auch ein vorbehaltenes Wohnungsrecht (ausnahmsweise) den Fristbeginn des § 2325 Abs. 3 BGB hindern kann, nicht abstrakt zu beantworten ist.
Maßgebend seien die Umstände des Einzelfalles, anhand derer beurteilt werden müsse, ob der Erblasser den verschenkten Gegenstand auch nach Vertragsschluss noch im Wesentlichen weiterhin nutzen konnte.
Er nennt folgende
Kriterien:
- Besteht das im Wohnungsrecht verankerte Ausschließungsrecht nur an Teilen der übergebenen Immobilie, dann ist der Erblasser mit Vollzug des Übergabevertrages nicht mehr als „Herr im Haus“ anzusehen.
- Auch die fehlende Gestattung einer Gebrauchsüberlassung an Dritte (§ 1092 Abs. 1 S. 2 BGB) schränkt die rechtliche Stellung des Erblassers einschließlich der wirtschaftlichen Verwertbarkeit des Grundstücks deutlich ein.
- Der Umstand, dass der Übernehmer ohne Zustimmung keine Um- oder Ausbaumaßnahmen vornehmen durfte, ändert an der rechtlich und wirtschaftlich schwächeren Stellung der Eltern nach Übertragung des Eigentums an dem Grundstück nichts.
Anmerkung von Rechtsanwalt Ingo Lahn, Fachanwalt für Erbrecht in Hilden:
Die besprochene Entscheidung des BGH ist eine der ganz wenigen, in denen der Pflichtteilsberechtigte „verloren“ hat.
Sie bringt nur bedingt Rechtsklarheit, eröffnet aber der Gestaltungspraxis Tor und Tür zur Pflichtteilsvermeidung bzw. -reduzierung.
Fest steht jedenfalls: Dient die Übertragung (auch) der Pflichtteilsvermeidung, dürfte die Vereinbarung eines unbeschränkten Wohnungsrechts bei Einfamilienhäusern oder Eigentumswohnungen von vorneherein ausscheiden!
Unklar bleibt weiterhin, wieviel „Herrschaftsmacht“ dem Eigentümer verbleiben darf (Wesentlichkeitsgrenze), bis dies dann einem Anlaufen der Abschmelzungsfrist entgegensteht.
I.Ü. passt m.E. die Urteilsbegründung insoweit nicht mit dem Leitsatz („an diesem oder Teilen daran“) überein. Denn anders als die Begründung deutet der Leitsatz an, dass das Wohnungsrecht auch an der gesamten Immobilie bestellt werden könnte.